Stolpersteine in Wettenberg

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Louis und Klara Schleenbecker

Die erste Überraschung bei meinen Recherchen über Ludwig Schleenbecker war, dass er in Wirklichkeit Louis hieß, so wurde es jedenfalls 1897 in seinem Geburtseintrag vermerkt. Für die Heirat mit Klara bekommt er 1918 Urlaub von der Front. Nach der Beendigung des Krieges arbeitet Louis, der vorher Schlosser gelernt hatte, bei Buderus in Lollar, auf der Hütte, wie man in Krofdorf sagte und ist dort Betriebsratsvorsitzender. 1925 wird der aktive Gewerkschafter, der auch politisch aktiv ist, einen Tag vor Weihnachten wegen Auftragsmangel entlassen und muss sich und seine Familie, wie viele Krofdorfer in der Wirtschaftskrise mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Neben seinem politischen Engagement macht er bei den freien Turnern aktiv mit, spielt Theater, ist Mitglied bei den Freireligiösen.

Von den Nazis wird er als besonders aktiver Kommunist eingeschätzt und steht nach der Machtübernahme unter besonderer Beobachtung. Er ist einer der Organisatoren des Widerstandes der politischen Linken gegen die faschistische Diktatur, der in allen Dörfern des heutigen Wettenbergs besonders rege ist und von Kommunisten getragen und organisiert, aber auch von Sozialdemokraten unterstützt wurde. Es kommt in allen drei Dörfern zu zahlreichen Durchsuchungen, Festnahmen und Verhaftungen. Für 1933 sind drei Festnahmen Schleenbeckers mit entsprechenden Schutzhaftzeiten aktenkundig verbürgt.

Am 3. Januar 1934 wird er erneut verhaftet als der Krofdorfer Nazi, Schullehrer Rinn ihn denunziert, nachdem dieser beobachtet hatte, dass Louis dem Bodenbender aus Salzböden ein Flugblatt gegeben hatte. Daraufhin wird er festgenommen und im Spritzenhaus eingesperrt. Am nächsten Morgen sitzt der Dorfpolizist im Spritzenhaus und Louis ist verschwunden. Spätestens als die Oberhessische Tageszeitung, das offizielle Naziorgan, am 6. Januar mit voller Namensnennung nach ihm fahndet und schreibt: Gegen Schleenbecker haben die Polizeibeamten gegebenenfalls unter Anwendung der Schußwaffe vorzugehen wird deutlich, dass hier keine Dorfposse gespielt wurde, sondern man ihm eine Falle gestellt hatte. Klara schreibt Jahre später in einem Antrag man habe ihn für vogelfrei erklärt. Am 10. Januar wird auch im Gießener Anzeiger und überregional nach Ludwig Schleenbecker gefahndet.

Jetzt muss er fliehen und sein Weg führt ihn ins noch sichere autonome Saarland. Hier lernt er Erich Weinert kennen, der ein Gedicht mit dem Titel Schleenbecker wird gesucht! über ihn verfasst.

Nach dem Anschluss des Saarlands ans Reich, flieht er nach Frankreich, wo die Saarländer Emigranten keineswegs willkommen sind. Er geht nach Spanien und kämpft dort auf Seiten der Republik als Interbrigadist in den internationalen Brigaden gegen die Franco-Faschisten und ihre deutschen Verbündeten. Als sich die Niederlage abzeichnet gelingt es ihm mit einem sogenannten Nansen-Pass nach Paraguay zu fliehen; das Programm der französischen Regierung und des Völkerbundes die Saarländer Emigranten loszuwerden ist seine letzte Zuflucht. Frankreich bezahlt die Überfahrt, der Völkerbund hat ein Stück Urwald gekauft und gibt einen Überbrückungskredit. Hier reißt auch der Kontakt zur Familie ab, der nur über einen Mittelsmann möglich war, seine vorläufig letzte Nachricht kam aus Dakar (Senegal), wo das Schiff nach Paraguay zum Zwischenstopp angelegt hatte.

1946 meldet er sich wieder bei Klara, aus der Colonia Nansen, die er bald darauf nach Puerto Rosario, ebenfalls in Paraguay verließ, da dort die Arbeitsmöglichkeiten besser waren.

Klara hatte unterdessen Ende 1945 Wiedergutmachungs-Rente beantragt und bekommt, nachdem man Louis als politischen Flüchtling anerkannt hatte, dann 1948 schließlich 150 Mark genehmigt. Diese Zahlung wird dann sogleich wieder auf die Hälfte gekürzt und im August eingestellt: ihr Mann solle sie finanzieren. Klara legt ihren Briefwechsel mit ihrem Mann vor und die 75 jetzt DM werden wieder gezahlt, da Louis weder Geld schicken noch die Überfahrt bezahlen könne. Louis schreibt in einem der Briefe: „Wenn man sagt, Ihr Mann lebt und muß für Sie aufkommen, so muß man ihm auch die Möglichkeit dazu geben. Warum läßt man uns nicht nach Hause? In dem man uns die Überfahrt bezahlt?“

Als man Klara die Rente im Januar 1950 erneut streicht, diesmal mit der Begründung, dass Schleenbecker nicht die Absicht habe zurückzukommen, diese Logik habe ich bis heute noch nicht verstanden, legt sie Widerspruch dagegen ein. Noch ehe dieses Verfahren abgeschlossen ist, lebt Louis wahrscheinlich bereits nicht mehr.

Die letzte Nachricht über Louis kommt von einer Nachbarin aus der Colonia Nansen, mit der Klara ebenfalls im Briefwechsel stand, die schreibt, dass Louis am 12.1.1951 auf dem Rio Paraguayo vom Schiff gefallen und seitdem vermisst sei. In einem Aktenvermerk, den Klara Schleenbecker mit Sicherheit nie zu sehen bekam, der sich aber in der Wiedergutmachungsakte im Staatsarchiv in Wiebaden befindet, spricht sich Bürgermeister Mandler nunmehr gegen eine Rückkehr von Schleenbecker aus, dieser Vermerk gipfelt in der Feststellung: „Sollte er allerdings die Überfahrt aus eigenen Mitteln bestreiten, so könnte ihm die Heimkehr nicht verweigert werden.“

Als Klara 1958 schließlich Witwenrente beantragt, hält man sie weiter hin, erst fehlt der Erbschein, dann stellt man fest, dass man erst einen Totenschein braucht, dann macht man sie noch zur Pflegerin für einen Toten, sie erlebt das alles bereits nicht mehr, sie verstarb am 25. November 1958. Nahezu fünf Jahre später teilt man der Toten mit, dass ihr gesamter Entschädigungsanspruch aufgerundet 150 DM betrage, der mit der früheren Rente bereits mehr als abgegolten sei und im übrigen mangele es an einem Erbschein.

!966 werden nochmals von den Erben Unterlagen vorgelegt und Louis wird am 30. März 1967 zum 31.12.1956 rückwirkend für tot erklärt. Nachdem nunmehr ein Erbschein vorgelegt wird, wird der letzte Antrag von 1967 wegen verspäteten Eingangs abgelehnt und die Akte Schleenbecker am 25.1.1968 geschlossen.

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Familie Bechthold

Als Johann Georg Bechthold 1907 im Alter von 52 Jahren stirbt, bleibt seine Witwe Margarethe, geborene Rollshausen mit 8 Kindern im Alter zwischen 5 und 22 Jahren zurück, zwei weitere Kinder waren bereits in ihrem ersten Lebensjahr gestorben. Als sie 1916 stirbt, ist der jüngste Sohn, Wilhelm 13 Jahre alt, Margarethe ist 17, Hermann 18 und Wilhelmine ist 22 Jahre alt; die anderen noch lebenden Kinder waren erwachsen.

Insgesamt sterben 5 Geschwister in psychiatrischen Anstalten, für drei haben wir Stolpersteine verlegt. Das Schicksal all dieser Menschen war bereits völlig in Vergessenheit geraten, es gab lediglich noch schwache Spuren, dass ein Wilhelm Bechthold aus Launsbach in der Nazizeit abgeholt wurde. Alle weiteren Spuren mussten aus den unterschiedlichsten Quellen und Archiven zusammengetragen werden.

Die erste Spur zu Wilhelm Bechthold fand sich im Staatsarchiv Wiesbaden in den Akten zu Zwangssterlisierten. Wilhelm war 1936 auf Betreiben des Launsbacher Bürgermeisters zwangssterilisiert worden, wie so viele Menschen in dieser Zeit; für die Wettenberg Gemeinden sind mehr als 10 Fälle aktenkundig verbürgt und dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Nach diesem Eingriff kommt Wilhelm wieder nach Launsbach zurück und es wird sogar die Pflegschaft wieder aufgehoben.

Einmal aktenkundig geworden, ereilt ihn sein Schicksal 1940 erneut und er wird im August 1940 in den Kalmenhof nach Idstein eingewiesen. Hier entgeht er zwar der Deportation zur Vergasung nach Hadamar, überlebt aber das Ende der Aktion T4 nur um wenige Monate und wird in der Phase der sogenannten „wilden Euthanasie“ im Kalmenhof am 15. Januar 1942 umgebracht. Man gab den Patienten Überdosen Luminal, ein Schlafmittel, spritzte ihnen Morphium, oder ließ sie verhungern. Für Wilhelm wurde als Todesursache „angeborener Schwachsinn erheblichen Grades und Marasmus“, was auf verhungern hindeutet, beurkundet. Wilhelm wurde nur 39 Jahre alt.

Bei den Recherchen zu Wilhelm Bechthold wurden wir auf seine beiden Schwestern Margarethe und Wilhelmine aufmerksam und suchten nach Spuren über ihr Leben. Über die beiden Schwestern sind neben den Unterlagen der Fürsorge, des sogenannten Ortsarmenverbandes die Krankenakten erhalten, sodass etwas mehr über sie herausgefunden werden konnte.

Margarethe wurde 1898, vier Jahre vor Wilhelm geboren und besuchte 8 Jahre die Schule in Launsbach, wo sie auch lesen lernt. Sie wird 1922 in die „Blödenpflegeanstalt Eben-Ezer zu Asbacher Hütte“ aufgenommen. Sie hat eine Körperbehinderung (Skoliose), ihre Aufnahmediagnose lautet: „hat keine Überlegung bei der Arbeit; zittert bei der Arbeit; kann Schwester nicht helfen“. 1926 wird sie in das Waisenhaus Zoar nach Rechtenbach verlegt, wo sie in der Küche hilft. Als sie schwächer und hilfloser wird, wird sie 1937 nach Herborn in die Landesheilanstalt verlegt.

Diese Verlegungen in die Landesheilanstalten waren durchaus gewollt, zur Kosteneinsparung, aber auch schon Vorboten der nachfolgenden Vernichtungsprogramme, Ernst Klee nennt das den Probelauf der Euthanasie. Mit Beginn des 2. Weltkrieges werden die Pflegerationen drastisch gekürzt, der Anfang vom Ende für Wilhelmine, die vorher nur noch 42,5 kg wog.

Hunger war der tägliche Begleiter der Patienten, nach veröffentlichten Aussagen, versuchten Patienten in Herborn ihren Hunger am Schweinetrog zu stillen und bei den Herborner Pflegern, die alle aus den Reihen der überzeugtesten Nazis rekrutiert wurden galt die Devise: „wer nicht mehr selbst essen könne, müsse verrecken, ein Füttern gäbe es im dritten Reich nicht“. Margarethe stirbt am 19. Februar 1940, noch bevor die Gasmorde Hessen erreichen und gehört damit zu dem Personenkreis, der bis heute noch nicht als Opfer der sogenannten Euthanasie anerkannt ist. Margarethe wurde nur 41 Jahre alt.

Wilhelmine, die älteste der Opfer der Familie Bechthold des Vernichtungsprogrammes in den Psychiatrien des dritten Reiches, kommt 1932 im Alter von 38 Jahren in das Waisenhaus Zoar in Rechtenbach. Als Anamnese wird Geisteskrankheit und Epilepsie in der Familie vermerkt. In dieser Akte wird auch ein Kind von Wilhelmine erwähnt, das 1924 geboren sein soll und lebe und gesund sei (Bisher konnten keine weiteren Informationen hierzu ermittelt werden). Die Diagnose über Wilhelmine lautet: „mangelhafte Urteilsfähigkeit, geistiger Tiefstand“. Wilhelmine ist nach den Unterlagen die lebenstauglichste der drei Bechthold Opfer und hat als Hausangestellte gearbeitet. Zentral für die Einweisung sind „geschlechtliche Reizbarkeit und vagabundieren“. Auch sie wird im Heim zu Arbeiten herangezogen.

Am 9. September 1937 wird sie dann gemeinsam mit ihrer Schwester nach Herborn deportiert. Sie arbeitet in der Kochküche, zeitweise wegen ihrer guten körperlichen Verfassung auch auf dem Feld, was wohl alles dazu beiträgt, dass sie die Hungerkuren besser übersteht als ihre Schwester und bis zur Umwandlung der Anstalt in ein Lazarett überlebt. Sie wird dann im Juli 1941 nach Idstein verlegt, wo ihr Bruder Wilhelm ist.

Eintragungen über die Zeit in Idstein finden sich in der Krankenakte keine mehr. Sie überlebt wohl das Ende des Krieges, was aber zunächst wenig für sie ändert. Im Unterschied zu den Gefängnissen und KZs bleiben die Insassen weiter in den Anstalten und oft sogar das Personal dasselbe und die Verpflegungssätze unverändert. In den ersten Monaten sind demzufolge die Todesraten in den meisten Anstalten weiterhin ungewöhnlich hoch.

Wilhelmine stirbt im Januar 1947 im Hungerwinter 46/47, in dem es sowohl an Lebensmitteln als auch an Heizmaterial mangelte an den Folgen ihres langjährigen Martyriums. Wilhelmine wurde nur 53 Jahre alt.

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Mathilde Schwalb

Mathilde Schwalb kommt am 12. Juli 1902 als Tochter des Werkführers Ludwig Schwalb und dessen Ehefrau Katharine Schwalb, geborene Hof in Wißmar zur Welt. Da die Eltern evangelisch sind, lassen sie Mathilde ebenfalls evangelisch taufen. Wie aus den Fürsorgeakten der Gemeinde hervorgeht, kommt sie bereits mit 5 Jahren, am 28. Dezember 1907 in die Diakonie-Anstalten in Bad- Kreuznach und wird ihr gesamtes Leben bis zu ihrer Ermordung in Heimen und psychiatrischen Anstalten verbringen. Gründe für diese Unterbringung sind nicht bekannt, da keinerlei Krankenakten in den Archiven des LWV und der Kreuznacher Diakonie auffindbar sind; entweder sind diese verschollen, verloren gegangen, oder vernichtet worden. Bei ihrer Verlegung nach Weilmünster wird sie Jahre später in einem Schreiben als idiotisch bezeichnet, ein Begriff mit dem man zu dieser Zeit in dieser Art von Unterlagen sehr schnell bei der Hand ist.

Die Gemeinde rechnet als Träger der öffentlichen Fürsorge 1,60 Reichsmark pro Tag mit der Anstalt ab, wovon sie sich 15 Reichsmark monatlich von der in ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie zurückholt und diesen Betrag an die Kreiskasse weiterleitet. Eine medizinische Betreuung findet in diesen Einrichtungen nach den Abrechnungsunterlagen nicht statt. Im Kreis Wetzlar werden die Gemeinden an den Kosten mit 30% beteiligt, den Rest übernimmt die Kreiskasse für den Bezirksfürsorgeverband.

Nach dem Tod des Vaters, der am 21. November 1936 verstarb, wird zunächst geprüft, ob Mathilde etwas geerbt hat, oder eine Rente bezieht, beziehungsweise, ob in der Rente der Mutter ein Zuschlag für den Unterhalt der Tochter einberechnet ist. Nach einem handschriftlichen Vermerk werden auch die Vermögens und Familienverhältnisse der zu dieser Zeit noch lebenden 6 Geschwister untersucht. Im Resultat braucht die Mutter von ihren 40 Reichsmark monatlicher Rente keinen Kostenanteil mehr abführen. Am 6. September 1937 wird Mathilde von Bad-Kreuznach in die Landesheilanstalt Weilmünster verlegt.

Zu dieser Zeit werden planmäßig die Insassen aus den privaten Heimen in die staatlichen verlegt. Diese Verlegungen schwächten die freien, überwiegend kirchlichen Einrichtungen, senkten die Ausgaben und vergrößerten die Bedeutung des Bezirkswohlfahrtsverbandes und schufen die Voraussetzungen für die kommenden Vernichtungsprogramme.

Anfang 1935 waren in Weilburg 375 Patientinnen und Patienten untergebracht, Ende 1936 wurde die Zahl 1000 überschritten und 1938 waren im Schnitt 1500 Insassen untergebracht, bei unverändertem Personal. Im Jahr 1939 waren zeitweise über 2000 Kranke dort untergebracht und das bei lediglich zwei oder drei Ärzten, außer dem Leiter, bei einer Zahl von 1200 als „Fassungsvermögen der Anstalt.“ Hatte die Todesrate 1936 noch 8% betragen, verdoppelte sie sich fast im Folgejahr und stieg bis auf 37,5% im Jahr 1940, bevor die Gasmorde im T4 Programm überhaupt begannen. 1938 stellte eine staatliche Besuchskommision bei einer Begutachtung fest, dass zahlreiche in Weilmünster aufgetretene Todesfälle infolge einer zumeist zu spät entdeckten Tuberkulose auf ärztliche Überlastung zurückzuführen seien.

Unmittelbar nach der Einrichtung Hadamars als sechste und letzte Tötungsanstalt begannen im Januar 1941 die Transporte in die Vernichtung von Weilmünster nach Hadamar. Zuerst wurden bis „Mitte März mehr als 750 - und damit die Hälfte - ihrer eigenen Patientinnen und Patienten in die Hadamarer Gaskammer“ geschickt. „Am zweiten Tag, an dem eine Verlegung von Weilmünster nach Hadamar stattfand, gelang es einem bereits seit 1936 in Weilmünster untergebrachten 65jährigen Patienten“ zu fliehen, was darauf hindeutet, dass die Opfer sehr wohl wussten, was ihnen da bevorstand.

Am 20. Februar 1941 wird Mathilde Schwalb mit weiteren 70 Patienten von Weilmünster nach Hadamar verbracht und dort noch am selben Tag im Rahmen der sogenannten „T4 Aktion“ umgebracht.

Die ersten Jahre, bis zum Rentenbeginn des Vaters wohnte die Familie in einer Werkswohnung der Zigarrenfabrik, in der heutigen Bahnhofstraße in Wißmar, danach zog die Familie in das Haus Nr. 155 (heute Bahnhofstraße 8), in dem die Mutter zum Zeitpunkt der Verlegung von Mathilde nach Weilmünster noch mit ihrer Tochter Minna und deren Mann Wilhelm Will wohnte.

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Karl Drescher

Karl Drescher wurde am 6. Juli 1864 geboren, sein Vater war Schreiner und er lernte Zimmermann. Er heiratet 1888 Anna Margarethe Pausch mit der er 6 Kinder hat. Als seine Frau mit 44 Jahren stirbt, sind die Kinder zwischen 11 und 22 Jahre alt. Zu dieser Zeit arbeitet Karl Drescher als Hüttenarbeiter.

Die älteste Tochter blieb im Elternhaus beim Vater wohnen, die jüngeren Geschwister zogen nacheinander aus, blieben aber bis auf eine Tochter in Krofdorf wohnen. Nachdem der Mann der im Hause wohnenden Tochter im ersten Weltkrieg in Ypern gefallen war, unterstützte Karl seine im Hause wohnende Tochter. Im Alter sorgte dann diese Tochter für den Vater. In seiner 1944 beginnenden Krankenakte taucht als Berufsangabe Invalide auf, was darauf hindeutet, dass er bereits vor Eintritt des Rentenalters nicht mehr arbeitsfähig war und von seinen Kindern auch finanziell unterstützt wurde.

Im Jahr 1944 nimmt dann das Unheil seinen Lauf, am 2. Mai 1944 wird Karl Drescher in die Landesheilanstalt Weilmünster eingewiesen und da seine Krankenakte eine der wenigen ist, die aus dieser Anstalt erhalten blieben, lässt sich sein Weg in den Tod skizzieren. Wer treibende Kraft hierfür war, ist nicht feststellbar, beteiligt waren jedenfalls die Bürgermeisterei und der Sanitätsrat Seipp. Der Bürgermeister bescheinigt eine Woche vorher als Ortspolizeibehörde, dass gegen die Anstalts-Unterbringung von Karl Drescher nichts einzuwenden sei und der Arzt erstellt eine Bescheinigung, dass eine häusliche Verpflegung und Versorgung ausgeschlossen sei. Aus dem später von der Gemeinde ausgefüllten Fragebogen geht hervor, dass seine zwei Söhne für den Aufenthalt aufkommen. Als Grund für die "Geistesstörung" werden Altersschwäche und schlechte Pflege angegeben; Auffälligkeiten in der Familie oder in der Lebensweise Dreschers gehen aus den Unterlagen keine hervor.

In der Krankenakte wird "senile Demenz." als offizielle Einweisungsdiagnose vermerkt. Vom 10. Mai, also noch in der ersten Woche ist ein Patientengespräch dokumentiert, aus dem hervorgeht, dass Drescher Probleme mit einem Bein und dem Laufen hat und dass er schwerhörig ist. Die aufgeschriebenen Fragen und Antworten lassen keineswegs auf Verwirrtheit des fast 80jährigen schließen. Auf die Frage "Wer hat Sie denn hierher gebracht?" antwortet er: "Ei, hierher, die älteste Tochter" und weiter auf "Warum?" "Das muss der Bürgermeister gemacht hawe, der hat se hierher geschickt, das wiß ich aach net,... das ich geheilt wern soll." Danach gibt es bis zur Verlegung nach Hadamar im Oktober 1944 lediglich noch zwei Einträge über Bettlägerigkeit und abnehmende Konstitution.

In Hadamar gibt es einen Aufnahmeeintrag vom 20.10.1944, vier Tage später wird sein Tod eingetragen, als Todesursache Marasmus senilis, was auf Verhungern hindeutet. Zur Situation in den Anstalten ist noch anzumerken, dass Herborn in 1944 bereits geschlossen und zum Lazarett umgewandelt war und in Weilmünster bereits im März 1944 zwei Gebäude für Auslagerungen aus zerbombten Frankfurter Krankenhäuser und ab dem 20. September 1944 sieben der zehn Gebäude und die Männerbaracke zur Einrichtung eines SS Lazarettes bereit gestellt wurden.

Platz wurde dabei nicht zuletzt durch die Forcierung der Krankenmorde an den Patienten der Landesheilanstalt geschaffen. Im Jahre 1944 sind für Weilmünster 736 Todesfälle bei einer durchschnittlichen Belegung von 1650 Menschen verzeichnet. Ermordet wurden diese Menschen nach Einstellung der sogenannten "T4" Aktion nicht mehr durch Vergasen, sondern man ließ sie verhungern oder brachte sie mit Medikamenten um.

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Wilfried Bender

Paul Wilfried Bender kam am 27. August 1934 in Krofdorf als Sohn des Schneiders Wilhelm Paul Bender und seiner Ehefrau Helene, geborene Müller zur Welt. Die Eltern waren nicht kirchlich gesinnt, also freireligiös und so wurde auch Wilfried nicht getauft. Mit drei Jahren erkrankte er im Oktober 1937 an einer Hirnhautentzündung und kam zur Behandlung in die Kinderklinik der Universität Gießen. Als er im Januar des Folgejahres entlassen wurde, waren noch Folgeschäden zurück geblieben, was bei dieser Art Erkrankung häufiger vorkommt. Er konnte nicht mehr laufen und auch nicht mehr selbständig essen, neben den körperlichen Einschränkungen blieb auch eine geistige Behinderung zurück.

Die Eltern behielten das Kind gegen den Rat der Ärzte zuhause und pflegten es aufopferungsvoll. Es gelang ihnen, dass er wieder laufen lernte und die Sondenernährung konnte auch wieder abgesetzt werden, es genügte ihm beim essen zu helfen. Die Eltern hatten, wie soviele in Krofdorf eine kleine Landwirtschaft nebenbei und sie nahmen den Jungen übrall hin mit auf das Feld. Eines Tages geschah es, dass Wilfried sich bei der Feldarbeit von den Eltern entfernte und sich Richtung Wißmar verlief. Die Sache ging gut aus, er wurde in der Nähe von Wißmar aufgegriffen und nach Telefonaten mit der Bürgermeisterei in Krofdorf, in denen es gelang die Adresse der Eltern zu eruieren, wohlbehalten daheim abgeliefert.

Mitte des Jahres 1942 bekamen die Eltern eine schriftliche Aufforderung Wilfried in der Anstalt Scheuern bei Nassau abzuliefern. Das Zugangsbuch in Scheuern verzeichnet den 15. Juli 1942 als Aufnahmedatum, als Diagnose ist "Idiotie und halbseitige Lähmung" eingetragen. Mit dieser Einweisung nach Scheuern war das Todesurteil über Wilfried bereits gesprochen und wartete nur auf die Vollstreckung. Für den 9. Februar 1943 weist das Zugangsbuch in Scheuern auf, dass der Patient als geheilt nach der Anstalt Kalmenhof entlassen wurde

Von Entlassung konnte aber keine Rede sein, im Kalmenhof befand sich seit Ende 1941 eine sogenannte 'Kinderfachabteilung', also eine Vernichtungsstation des Reichsausschusses, von denen es mindestens 37 im damaligen 'Großdeutschen' Reich gab, in denen planmäßig vorwiegend behinderte Kinder und Jugendliche ermordet wurden. In den Räumen des Kalmenhofs war zu dieser Zeit bereits ein Lazarett eingerichtet, für das der größte Teil der Räumlichkeiten beschlagnahmt waren. Dem Kalmenhof selber stand nur noch der zweite Stock zur Verfügung und für die Kinderabteilung wurden im dritten Stock zwei Zimmer ausgebaut. Die Station war oft so stark überbelegt, dass mehrere Kinder sich ein Bett teilen mussten. Kamen größere Transporte an, wurde ein Teil der Kinder vorübergehend im ausgegliederten "Altersheim" untergebracht und dann sukzessive ins Krankenhaus gebracht, wo sie nach kurzer Zeit "starben", genauer ausgedrückt: umgebracht wurden. Der Mord erfolgte dann durch Nahrungsmittelentzug, durch Überdosen von Luminal, einem Schlafmittel, oder durch Morphiumspritzen.

Die Todesbeurkundung selber diente dann, wie die davor stattfindende Verlegung, nur noch zur Verwischung der Spuren und der Desorientierung der Angehörigen. Bei Wilfried erfolgte diese dann vier Tage nach der Verlegung zum 12. Februar 1943, als Todesursache wurde angegeben: Idiotie, Halbseitenlähmung (Encephalitis), chron. Ekzem, Anfälle, Marasmus. Den Eltern gelang es dann wenigstens noch den Leichnam ihres Kindes nach Hause zu holen und in Krofdorf zu bestatten.

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Maria Loginowa

Maria Loginowa wurde am 29. März 1929 in Rozhdestveno, Kreis Gattschina (früher Krasnogwardeisk), in der Nähe von Leningrad geboren. Anfang 1944 wurde sie 14jährig mit ihrer älteren Schwester Antonina und ihren Eltern nach Deutschland verschleppt und kam im März 1944 in Krofdorf-Gleiberg an. Mit ihnen gemeinsam kamen insgesamt 28 neue Zwangsarbeiter für Dönges an, die nahezu alle aus der Gegend von Leningrad stammten, darunter fünf Kinder unter 14 Jahren.

Da das „Russenlager“ im alten Rathaus nicht mehr über ausreichende Aufnahmekapazität verfügte, richtete man in der Turnhalle behelfsmäßig ein zusätzliches Lager ein, in dem man die Neuankömmlinge unterbrachte. In dem Lager fehlte es an dem notwendigsten, da nicht einmal Betten vorhanden waren, mussten die Menschen auf dem nackten Boden auf Stroh schlafen. Maria wurde, wie alle jugendlichen Zwangsarbeiter bei Dönges, in der Stanzerei eingesetzt.

Nachdem sie sich am 16.8. krank meldete, schickte Sanitätsrat Seipp sie am 17.8. nachWetzlar zum Kreisarzt zur „Nachuntersuchung“, der einen Schatten auf der Lunge sieht und die Diagnose TBC stellt. Als sie am 5.9. von einem Dönges Arbeiter nach Hadamar gebracht werden sollte, weigerte sie sich aufzustehen - als ob sie geahnt hätte, was da auf sie zukommt. Am nächsten Tag wurde sie dann mit Polzeiunterstützung nach Hadamar gebracht. Als die ältere Schwester Antonina sie besuchen will, schrieb Dönges am 18.9. an die Anstalt Hadamar, die am 20.9. antwortete, dass Besuche in der Isolierabteilung nicht möglich seien. Mit gleichem Datum wurde dann in einem weiteren Schreiben mitgeteilt, dass Maria Loginowa bereits am 12.9. verstorben sei.

In der Landesheilanstalt Hadamar wurden seit Ende Juli 1944 mehr als 600 Zwangsarbeiter, die wegen Tuberkulose oder anderer Krankheiten nicht mehr arbeitsfähig waren, umgebracht. Maria Loginowa ist eine von ihnen, der Totenschein weist als Todesursache „Geisteskrankheit und Darmgrippe“ aus. Diese ermordeten Menschen stammten zum überwiegenden Teil aus Hessen und es ist davon auszugehen, dass es noch weitere solcher Mordanstalten gab, in denen Zwangsarbeiter bei Arbeitsunfähigkeit getötet wurden.

Im Prozess vor dem Militärgericht inWiesbaden, der vom 8. bis 15. Oktober 1945 stattfand und sich mit den Morden befasste, leugneten die Täter die Taten nicht. Aus den Aussagen geht hervor, dass die Opfer direkt nach Ankunft mit Spritzen umgebracht wurden, die Todesbeurkundungen dann Tage später verfasst und sowohl Todesdatum als auch Ursache gefälscht wurden, um die Taten zu verschleiern. Der Verwaltungsleiter und zwei Pfleger wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, der eigentlich Hauptverantwortliche Arzt, Adolf Wahlmann wurde mit Rücksicht auf sein Alter zu lebenslänglich verurteilt.

In einem weiteren Hadamarprozess in Frankfurt wurde Wahlmann dann 1947 wegen 900fachen Mordes zum Tode verurteilt, im Revisionsverfahren wurde das Strafmaß bestätigt, jedoch der Vorwurf auf Anstiftung zum Mord reduziert. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes war die Todesstrafe abgeschafft und das Urteil wurde in lebenslänglich abgeändert. In 1952 wurde Wahlmann aus amerikanischer Haft in Landsberg in ein deutsches Gefängnis überführt und dann im Oktober 1953 aus der Haft entlassen.

Bezeichnend ist auch, dass Bürgermeister Mandler am 27.12.1948 in einer Liste bescheinigte, dass sich Maria Loginowa vom 24.5.1944 bis zum 1.5.1945 in Krofdorf-Gleiberg aufgehalten habe. Es ist völlig undenkbar, dass das Verschwinden von Maria und ihr Schicksal im Dorf unentdeckt geblieben sein könnte. Adolf Mandler war ausgewiesener Antifaschist aber auch eingefleischter Krofdorfer, der „sein Krofdorf“ nicht in schlechtem Licht erscheinen lassen wollte.

Der Versuch über die Leiterin des Büros für Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit der russischen Botschaft, Frau Olga Titkova noch Spuren in der Heimat der Familie Loginow zu finden führte leider nicht weiter.

Auch der Vater von Maria, Wassili Loginow überlebte die Zwangsarbeit nur kurz und kam am 31.3.1945 völlig entkräftet in das Gießener katholische Schwesternhaus und verstarb dort am 6. April 1945.

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Karl Rinn

Karl Rinn wurde am 14.5.1913 in Gleiberg geboren. Sein Vater, Adolf Rinn kehrte aus dem ersten Weltkrieg nicht zurück, seine Mutter, Margaretha, geborene Waldschmidt starb am 17.1.1922. Die drei Geschwister, im Alter von 8 bis 11 Jahren kamen in Pflegefamilien, wahrscheinlich aus der Verwandtschaft. Danach verlieren sich die Spuren von Karl Rinn zunächst.

Am 27.2.1939 kam Karl Rinn in das Landeshospital Haina, von wo er am 17.6.1941 nach Weilmünster verlegt wurde. Von Weilmünster wurde er dann am 24.7.1941 in die Vernichtungsanstalt Hadamar gebracht, wo er mit Gas ermordet wurde. Der Umstand, dass Rinn nach Haina kam, lässt es als wahrscheinlich erscheinen, dass er in der Zwischenzeit in Kirchvers beiVerwandten untergebracht war. Kirchvers gehörte zum Kreis Marburg, für den das kurhessische Haina zuständige Anstalt war.

Aus den Dörfern von Wettenberg, die zum Kreis Wetzlar gehörten, kamen in erster Linie Weilmünster oder Herborn in Frage. Die Anstalt in Haina war zu dieser Zeit mit 1200 Patienten bereits überbelegt, normal waren dort im Schnitt lediglich 800 Patienten untergebracht.

Am 28. Juni 1940 bekam Haina die Aufforderung bis zum 1. August alle Patienten in Meldebögen zu erfassen und die Listen an das Reichsinnen Ministerium zu schicken. Verwendet wurden diese dann zur Selektion für die Vernichtung. Am 10. April 1941 erging dann die Aufforderung an die Anstalten Merxhausen, Haina und Marburg die ersten 600 Patienten sobald wie möglich in die Zwischenanstalten Eichberg, Herborn, Idstein, Scheuern, Weilmünster zu verlegen, um sie von dort nach Hadamar zur Vernichtung zu bringen. Organisiert und geleitet war dieses T4 genannte Programm zentral von Berlin.

Die Leitungen und die Ärzte der einzelnen Anstalten waren in diese Aktion eingebunden und auf gemeinsamen Treffen entsprechend informiert. Aus Haina sollten zuächst 200 Männer nach Idstein verlegt werden. Karl Rinn gehörte dann zum vorletzten Transport aus Haina; am 17. Juni 1941 war er einer von 150, die von Haina nach Weilmünster gebracht wurden. Die Angehörigen wurden dann erst im Nachhinein von der Verlegung informiert. Die Transporte aus Haina erfolgten mit der Eisenbahn. Um zum Bahnhof zu gelangen wurden die Patienten zunächst mit dem Anstaltslastwagen zur 8 km entfernten Bahnstation Gemünden gefahren.

Jeder konnte sehen, was da in seinem Dorf geschah, alle wussten Bescheid, dass von diesen Transporten keiner mehr zurückkam und es wurde nicht nur gemunkelt, dass diese Menschen umgebracht wurden.

Karl Rinn wurde am 24.7.1941 nach Hadamar gebracht und dort noch am selben Tag mit Gas umgebracht, wie es in den Tötungsanstalten immer gehandhabt wurde; zur Unterbringung zahlreicher Patienten war man gar nicht eingerichtet. In seinem Geburtseintrag im Standesamt Krofdorf ist die Todesbeurkundung nachgetragen: Gestorben Nr. 72/1941 St. A. Hadamar Mönchberg, wobei die niedrige Eintragungsnummer genauso gelogen sein dürfte, wie die Todesursachen und die Trostbriefe, die man an Angehörige verschickte. Nachsehen kann man bei den Tötungsanstalten die Sterbeurkunden nicht, das waren extra eingerichtete Standesämter deren Akten man nach der Aktion vernichtete.

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Edith Schieferstein

Edith Schieferstein wurde am 12.06.1936 in Gießen geboren. Edith war von Geburt an geistig behindert. Ihr Vater war 1933 in die NSDAP eingetreten und stieg im Laufe der Zeit zum Kassenleiter der Gemeinde auf.

Im Januar 1941 stelle der Bürgermeister, gestützt auf ein Gutachten des Sanitätsrates Dr. Seipp einen Antrag auf „Unterbringung eines Hilfsbedüftigen in eine Anstalt“. Es ist davon auszugehen, dass dies mit Unterstützung oder auf Initiative des Vaters geschieht. Die Notwendigkeit der Maßnahme begründet der Nazi-Bürgermeister mit der Belastung der Mutter durch die häuslichen Pflege von Edith und „aus Rücksicht auf die zwei Jahre jüngere Schwester sei aus bevölkerungspolitischen Gründen die Unterbringung angebracht“.

Reinhard Schieferstein bringt im Sommer 1941 seine Tochter in die Anstalt nach Scheuern, die zu dieser Zeit als Zwischenanstalt von Hadamar fungierte. Die Eltern beschwerten sich im Dezember des gleichen Jahres über die Mangelernährung und versuchten, durch Pakete und regelmäßige Besuche, die zunehmend erschwert wurden, die Situation zu verbessern. In der Krankenakte finden sich etliche Paket- und Expressgutquittungen über Lebensmittel und Kleidung und persönlich gehaltene Briefe der Mutter an die Pflegerin. Sie fragt an, wann sie anrufen kann und schreibt: „Man ist doch immer beruhigt wenn man ein paar Worte gesprochen hat über das Kind. Grüßen Sie mein liebes Rotköpfchen und bemuttern Sie es so, dass es an nichts Mangel leidet.“

Im Dezember 41 beklagt sich auch der Vater über die Mangelernährung und der Direktor der Anstalt schreibt 2 Wochen später, dass Edith bereits wieder einen kräftigeren Eindruck macht. Besuchsanfragen der Eltern werden mit fadenscheinigen Gründen über sehr lange Zeit abgelehnt und im Februar 1943 wird Edith nach Hadamar verlegt. Zu dieser Zeit war dort die Vergasung bereits eingestellt, aber nicht die Tötung durch Medikamente und mangelhafte Ernährung. Als die Mutter in einem Brief von der Verlegung erfährt, reist sie in Panik so schnell sie kann nach Hadamar. Sie muss geahnt haben, dass die Verlegung den sicheren Tod von Edith bedeutete und es gelingt ihr das schier Unmögliche und sie holt ihre Tochter nach Hause.

Sechs Wochen später stirbt Edith zu Hause an einer Überdosierung von Betäubungsmitteln. Der Hausarzt hat die verschreibungspflichtigen Medikamente nicht verordnet. Wahrscheinlich wurden der Mutter ein Rezept und Dosierungsanweisungen in Hadamar mitgegeben und so wurde sie zum Werkzeug der Ärzte.

Nimmt man die Perspektive von Edith ein, so ist sie zu den Opfern der staatlichen Krankenmorde zu rechnen, völlig unabhängig davon wie ihre Familie beteiligt gewesen sein mag. Sie hat ein Anrecht darauf, dass an sie erinnert wird, ohne der Mutter eine Schuld zuzuweisen, die man nicht belegen kann. Edith wurde nur 7 Jahre alt.

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Wilhelmine Pfaff

Wie die meisten Mordopfer der Psychiatrien war Wilhelmine Pfaff aus dem kollektiven Gedächtnis ihres Heimatortes bereits verschwunden. Die wenigen Informationen, die heute noch in den Archiven zu finden sind, ergeben nur ein schemenhaftes Bild. Sie war geboren am 7.5.1906 als Wilhelmine Kühn in Nauborn, bei Wetzlar. Sie heiratete den Launsbacher Wilhelm Pfaff und zog zu ihm nach Launsbach. Im Mai 1930 wurde ihre Tochter Emmi geboren.

Das nächste Lebensereignis von ihr ist zu finden in den Abrechnungsbögen des Anteils der Gemeinde Launsbach an den Unterbringungskosten von Wilhelmine in der Anstalt in Herborn. Aus den Eintragungen geht hervor, dass Wilhelmine Pfaff ab 26.10.1934 in Herborn in der Anstalt untergebracht war. Sie war 28 Jahre alt als sie in die Psychiatrie kam und ihre Tochter Emmi war vier Jahre alt. Der Anlass, weshalb Wilhelmine Pfaff nach Herborn kam, ist nicht bekannt; gewiss ist, dass sie nicht mehr nach Hause entlassen wurde.

Am 30.1.1941 wurde Wilhelmine Pfaff von Herborn in die Vernichtungsanstalt Hadamar gebracht und dort wahrscheinlich noch am selben Tag mit Gas ermordet. Ihr Name findet sich auf den Mordlisten der Ermittlungsbehörden die in den Prozessakten des „Hadamar-Prozesses“ zu finden sind. Ihre Krankenakte ist, wie in vielen Fällen, vernichtet worden und nicht erhalten. Abgerechnet gegenüber der Gemeinde wurde sie von Herborn allerdings noch bis zum 22.2.1941.

Dass ihr Onkel, der Maurer Jakob Kühn, geboren im Oktober 1875 im Jahre 1915 nach Hephata kam, trug vermutlich zumindest mit dazu bei, dass sie als „erblich belastet“ eingestuft und in die Mordlisten eingetragen wurde. Das weitere Schicksal des Onkels ist unbekannt. Die letzte Nachricht an die Familie war dann der „Trostbrief“ mit einer fingierten Todesursache und einem gefälschten Todesdatum.

Im Fall von Wilhelmine Pfaff wurde sogar der Todesort verschleiert. Als ihr Mann wieder heiraten wollte, musste er eine Sterbeurkunde vorlegen. Diese Urkunde wurde vom Standesamt Bernburg II ausgestellt und weist aus, dass Wilhelmine Pfaff angeblich am 12. Februar 1941 in der HuPlA Bernburg an einer Hirnschwellung verstorben sei.

Bernburg war eine der Mordanstalten der T4 Aktion und es gibt eine ganze Reihe von Falschbeurkundungen von Hadamar-Morden durch das Standesamt Bernburg II. Im Fall von Wilhelmine Pfaff wurde dies erst durch unsere Recherchen aufgedeckt.

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Ludwig Lauz

Ludwig Lauz war in Wißmar geboren am 2. September 1904 und erlernte den Beruf des Kernmachers und arbeitet bei Buderus in Lollar. Am 29. Januar heiratete er die am 30. November 1905 in Wißmar geborene Zigarrenarbeiterin Emma Schwalm. Sie hatten 2 Mädchen und einen Jungen und lebten im Elternhaus von Ludwig Lauz in Wißmar, in der heutigen Forsthausstraße 10.

Ludwig kam als Soldat in das Wehmachtslazarett Westewitz/Sachsen in die Nervenabteilung genaue Daten sind nicht bekannt. Von dort kam er nach Merxhausen, das, wie Westewitz ein Lazarett war, das in einer Landesheilanstalt eingerichtet wurde. Hier wurde er als Soldat entlassen und am 21.4.44 nach Weilmünster geschafft. Am 12.6.44 wurde er in Weilburg zwangsweise sterilisiert. In einem Schreiben der Anstalt Weilmünster vom 12.7.1950 an die Ehefrau liest sich dann so: „Ludwig L[...] befand sich wegen geistiger Störung (Schizophrenie) vom 21.4.44 - 12.6.44 in der hiesigen Anstalt. Nach den damals geltenden Gesetzen konnte seine Entlassung aus der Anstalt nur nach vorheriger Sterilisierung erfolgen. Ihr Mann wurde deshalb am 12.6.44 im Weilburger Krankenhaus unfruchtbar gemacht und anschließend nach Hause entlassen.“

Am 20.8.1944 erhängte sich Ludwig L. in Wißmar. Er wurde nur 39 Jahre alt und hinterließ 3 Kinder im Alter zwischen 11 und 17. Der Wiedergutmachungsantrag seiner Frau wurde mit der Standardbegründung „ersichtlich nicht aus Gründen der Rasse, Religion oder der Weltanschauung...“ abgelehnt.

Ob man sich 1944 überhaupt noch die Mühe gegeben hatte, das Erbgesundheitsgericht zu bemühen und ob die Diagnose auf medizinisch vertretbarer Grundlage stand, wurde im Wiedergutmachungsverfahren erst gar nicht untersucht.

Sicher ist nach Aktenlage: Ludwig Lauz wurde gesund in den Krieg geschickt und kam 1944 psychisch krank zurück, statt ihm zu helfen, wurde der Vater dreier Kinder zwangssterilisiert und zerbrach daran.

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Wilhelm Mandler

Wilhelm Mandler wurde als Sohn von Georg Mandler und Katharine, geborene Gimbel, am 16. Februar 1892 in Wißmar geboren und besuchte dort die Volksschule. Nach der Schulentlassung arbeitete er in der Zigarrenfabrik Rinn & Cloos als Tagelöhner, bei der Firma Balthasar Römer lernte er Weißbinder und arbeitet dann bei Buderus in Lollar als Hilfsarbeiter. Mit 20 Jahren wurde er zum Militär eingezogen und kam nach Ableistung der Dienstpflicht 1914 mit dem Infanterie Regiment 45 an die Ostfront, wo er bereits 1915 in russische Gefangenschaft geriet. Nach Kriegsende wurde er 1918 aus der Gefangenschaft entlassen.

Er heiratete 1918 Margarete Steinmüller, geboren am 2.5.1892 in Rodheim-Bieber und das Ehepaar Mandler bekommt drei Kinder. Wilhelm tritt 1919 in die SPD ein und wechselt 1931 in die KPD. Funktionen hat er nach eigenen Angaben in einem Vernehmungsprotokoll nicht bekleidet, von Widerstandshandlungen ist ebenfalls nichts bekannt, der NSDAP trat er nicht bei und war auch in keiner der Nebenorganisationen. Er arbeitet in mehreren Firmen der Umgebung, bis er 1941 zum Invaliden erklärt wird und eine kleine Rente bezieht und man ihn zum Luftschutzwachmann macht. Bei Kriegsbeginn wird sein Sohn zum Militär eingezogen und in Frankreich eingesetzt.

Am 18.1.1944 zeigt der Rodheimer Nazi SA-Obersturmführer Ludwig Hasselbach V., der mit einer Freundin von Margarete Mandler verheiratet ist, Wilhelm Mandler wegen Abhörens von Auslandssendern an. Nach seinen Angaben sei Mandler Fahnenträger bei der KPD gewesen und er weiß von einer Niedergeschlagenheit unter Wißmarer gefestigten Kampfgenossen zu berichten, die den guten Ausgang des Krieges bezweifeln. Er vermutet, dass dies auf Erzählungen beruhe, die von Auslandssenderhörern stammen und Mandler einer von diesen sein könne. Mandler, der in der damaligen Bismarckstraße 155 (heute Bismarckstraße 14) wohnte, wird am 17.5.1944 durch Kriminalassistent Bühler, Wetzlar festgenommen und verhört.

Nazibürgermeister Krauss vermerkt dazu: „vor Machtübernahme: Mitglied der KPD, nach Machtübernahme: gab sich den Anschein eines Biedermanns, war aber getarnter Kommunist, Charakter: hinterhältig und verschlagen, Leumund: nicht der Beste, Familienverh.: lebt mit seiner Familie in dauerndem Unfrieden. [...] Mandler wurde von der Geheimen Staatspolizei wegen Abhören feindlicher Sender in Schutzhaft genommen. Wie mir der hiesige Ortsdiener und Nachtwächter Guckelsberger anläßlich dieser Tatsache mitteilte, soll Mandler ihm gegenüber geäußert haben, daß der bei Stalingrad gefangengenommene Panzergeneral Paulus im russischen Sender gesprochen und dort geäußert haben, daß die Verhältnisse bei den Sowjets ganz anders seien als bei uns geschildert und daß das deutsche Volk von seiner Führung belogen und betrogen worden sei. Er selbst habe diese Äußerungen von anderer Seite erfahren.

Nach erneuter Festnahme wird er am 8. Juni zur Gestapo nach Frankfurt überstellt, wo dann am 14.6.1944 ein Haftbefehl vom Amtsgericht Frankfurt gegen ihn erlassen wird. Begründet wird dies mit Fluchtgefahr wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe.

Auffallend an dem Vernehmungsprotokoll ist, dass die Vernehmung „aus dienstlichen Gründen abgebrochen“ und später fortgesetzt wurde. Auch die Formulierung „Wenn meinen Worten kein Glaube geschenkt wird, da ich den Eindruck erwecke, dass alle Ermahnungen zur Wahrheit an mir nutzlos abgeprallt sind“ deutet darauf hin, dass Wilhelm Mandler gefoltert wurde, was in der Hammelsgasse in diesen Jahren an der Tagesordnung war. „In die Hammelsgasse kamen die Verhafteten erst, wenn die Vernehmungen bei der Gestapo abgeschlossen waren, wenn man aus den Gefangenen alles rausgeholt hatte. Bei den Vernehmungen kam es zu Folterungen und Mißhandlungen; [...] Die Verhöre der Gestapo fanden meist in der Lindenstraße statt. [...] Aber es gab auch Verhöre in der Hammelsgasse und es kam zu Mißhandlungen, um Geständnisse aus den Gefangenen herauszupressen.“ Mandlers Frau sagt im Oktober aus, dass sie Frau Hasselbach davon erzählt habe, allerdings wohl nur irrtümlich angenommen habe, dass ihr Mann Feindsender gehört habe, da sie vermutete, dass deutsche Sender um 24:30 Uhr nicht mehr senden würden. Die Tochter sagt aus, dass ihr diese Sache völlig unbekannt sei.

Am 5.November1944 um 11:10 Uhr kommt Wilhelm Mandler dann nach Aktenlage bei einem Bombenangriff auf das Gefängnis um. Das Verfahren gegen den Toten wurde dann am 13.November1944 eingestellt, das mögliche Urteil war ja sozusagen bereits vollstreckt. Trotz der Einstellung des Verfahrens im November, folgt dann am 9.Januar1945 nochmals eine Berichtsanfrage des Oberstaatsanwaltes als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht, die darauf hindeutet, dass diese Verfahren zum Kriegsende hin mit größtem Nachdruck geführt wurden.

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Karl Munzert

Karl Munzert war 1902 in Bochum geboren, wuchs in Lollar auf und erlernte den Beruf des Steinbildhauers. Mit 23 heiratete er die Wißmarerin Anna Kraft und die Familie lebte im Elternhaus von Anna.

Steinbildhauer war in der Wirtschaftskriese dieser Jahre kein auskömmlicher Beruf. Karl arbeitete oft auswärts und verdiente kaum mehr als Kost und Logis und die Familie in Wißmar war auf Sozialunterstützung angewiesen. In 1927 findet sich dann in den Akten in Wißmar der verhängnisvolle Vermerk: „Die Familie Munzert ist hier wohnhaft und fällt der Fürsorge zur Last.“ und das verhängnisvolle Stichwort „arbeitsscheu“, das Munzert letztlich zum Verhängnis werden sollte, als die Nazis an die Macht kamen. In der Folge wechselten sich Aufenthalte in Wißmar bei der mittlerweile vierköpfigen Familie mit auswärtigen Tätigkeiten ab.

1937 hielt er sich in Bayern auf, hier sind die Stationen München und Erding verbürgt. Hier geriet er auch in den Fokus der Polizei, die in Wißmar nachfragt. Nazibürgermeister Krauss antwortet: „Es bleibt mir unverständlich, daß man dem vagabundierenden Leben des Munzert durch drakonische Maßnahmen nicht schon längst ein Ende gemacht hat.“ Unmittelbar vor Weihnachten 1937 wird die Unterbringung von Munzert in einer „öffentlichen Arbeitsanstalt“ angeordnet und nach ihm gefahndet. Fast ein Jahr später wird er in Augsburg festgenommen und kommt in Untersuchungshaft.

Die Familie in Wißmar bekommt von all dem keine Mitteilung. Im Januar 1939 schafft man Munzert als sogenannten AZR Häftling nach Dachau. Unter diese Gruppe von Häftlingen fielen vorwiegend in Armut lebende Menschen, aber auch sogenannte „Zigeuner“ und alle, die man dafür hielt oder dazu erklärte wie fliegende Händler oder eben Wanderarbeiter wie Karl Munzert. Das KZ Dachau wurde bereits 1933 eingerichtet und bestand bis zur Befreiung. Von den 200.000 Menschen, die dort Schwerstarbeit bei Hungerkost verrichten mussten, überlebte ein Viertel dies nicht.

Dachau war nur eine Station auf Munzerts Leidensweg. Nach vier Monaten wird er in das KZ Mauthausen deportiert, das zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau war. Mauthausen war berüchtigt für die Schwerstarbeit in den Steinbrüchen, bei Mangelernährung, der viele Häftlinge nicht standhielten. Von den 200.000 Eingesperrten wurde die Hälfte ermordet oder zu Tode geschunden.

Am 5.12.1939 kam Karl Munzert im KZ Mauthausen ums Leben. In der Woche von Munzerts Tod weist das Totenbuch 39 Namen aus. Der jüngste ist 25, der Älteste 66, das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren. Bei drei Viertel der Opfer ist Herz-Kreislaufschwäche als Todesursache eingetragen. Karl Munzert wurde nur 37 Jahre alt. Anna Munzert muss sich nun mit ihren beiden Kindern alleine durchschlagen, was nur mit der Hilfe Verwandter möglich war. Bezeichnend die Äußerung des Ortsgruppenleiters Henrich: „Für diese Menschen, wo der Ehemann oder Vater im KZ gestorben ist, hat der nationalsozialistische Staat kein Interesse. Sind Sie froh, daß Sie noch hier sind, wo Sie morgen mit Ihren Kindern sind, wissen wir heute noch nicht.“

Auch nach dem Ende des Naziregimes verweigert man Anna Munzert die Zahlung einer Witwenrente, auf die Möglichkeit Wiedergutmachung zu beantragen, weist man sie nicht hin. Ihre Kinder müssen möglichst früh Geld verdienen, eine Ausbildung ist da nicht möglich. Als sie 1958 dann mit anwaltlicher Hilfe Wiedergutmachung beantragt, verschleppt man das Verfahren. Dass gegen Munzert strafrechtlich nichts vorlag, dass er ohne Anklage oder Urteil eingesperrt wurde, dass er gesund in Haft kam und mit 37 Jahren verstarb, ohne krank zu sein oder einen Unfall gehabt zu haben, reichte nicht aus. Sie solle belegen, dass Karl als politisch oder rassisch Verfolgter ins KZ kam.

Die Anwälte lassen nicht locker und umschiffen auch diese Klippe und 1960 bekommt sie eine Rente von 220 DM und eine Nachzahlung zugesprochen.

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