Stolpersteine in Wettenberg

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Louis und Klara Schleenbecker

Die erste Überraschung bei meinen Recherchen über Ludwig Schleenbecker war, dass er in Wirklichkeit Louis hieß, so wurde es jedenfalls 1897 in seinem Geburtseintrag vermerkt. Für die Heirat mit Klara bekommt er 1918 Urlaub von der Front. Nach der Beendigung des Krieges arbeitet Louis, der vorher Schlosser gelernt hatte, bei Buderus in Lollar, auf der Hütte, wie man in Krofdorf sagte und ist dort Betriebsratsvorsitzender. 1925 wird der aktive Gewerkschafter, der auch politisch aktiv ist, einen Tag vor Weihnachten wegen Auftragsmangel entlassen und muss sich und seine Familie, wie viele Krofdorfer in der Wirtschaftskrise mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Neben seinem politischen Engagement macht er bei den freien Turnern aktiv mit, spielt Theater, ist Mitglied bei den Freireligiösen.

Von den Nazis wird er als besonders aktiver Kommunist eingeschätzt und steht nach der Machtübernahme unter besonderer Beobachtung. Er ist einer der Organisatoren des Widerstandes der politischen Linken gegen die faschistische Diktatur, der in allen Dörfern des heutigen Wettenbergs besonders rege ist und von Kommunisten getragen und organisiert, aber auch von Sozialdemokraten unterstützt wurde. Es kommt in allen drei Dörfern zu zahlreichen Durchsuchungen, Festnahmen und Verhaftungen. Für 1933 sind drei Festnahmen Schleenbeckers mit entsprechenden Schutzhaftzeiten aktenkundig verbürgt.

Am 3. Januar 1934 wird er erneut verhaftet als der Krofdorfer Nazi, Schullehrer Rinn ihn denunziert, nachdem dieser beobachtet hatte, dass Louis dem Bodenbender aus Salzböden ein Flugblatt gegeben hatte. Daraufhin wird er festgenommen und im Spritzenhaus eingesperrt. Am nächsten Morgen sitzt der Dorfpolizist im Spritzenhaus und Louis ist verschwunden. Spätestens als die Oberhessische Tageszeitung, das offizielle Naziorgan, am 6. Januar mit voller Namensnennung nach ihm fahndet und schreibt: Gegen Schleenbecker haben die Polizeibeamten gegebenenfalls unter Anwendung der Schußwaffe vorzugehen wird deutlich, dass hier keine Dorfposse gespielt wurde, sondern man ihm eine Falle gestellt hatte. Klara schreibt Jahre später in einem Antrag man habe ihn für vogelfrei erklärt. Am 10. Januar wird auch im Gießener Anzeiger und überregional nach Ludwig Schleenbecker gefahndet.

Jetzt muss er fliehen und sein Weg führt ihn ins noch sichere autonome Saarland. Hier lernt er Erich Weinert kennen, der ein Gedicht mit dem Titel Schleenbecker wird gesucht! über ihn verfasst.

Nach dem Anschluss des Saarlands ans Reich, flieht er nach Frankreich, wo die Saarländer Emigranten keineswegs willkommen sind. Er geht nach Spanien und kämpft dort auf Seiten der Republik als Interbrigadist in den internationalen Brigaden gegen die Franco-Faschisten und ihre deutschen Verbündeten. Als sich die Niederlage abzeichnet gelingt es ihm mit einem sogenannten Nansen-Pass nach Paraguay zu fliehen; das Programm der französischen Regierung und des Völkerbundes die Saarländer Emigranten loszuwerden ist seine letzte Zuflucht. Frankreich bezahlt die Überfahrt, der Völkerbund hat ein Stück Urwald gekauft und gibt einen Überbrückungskredit. Hier reißt auch der Kontakt zur Familie ab, der nur über einen Mittelsmann möglich war, seine vorläufig letzte Nachricht kam aus Dakar (Senegal), wo das Schiff nach Paraguay zum Zwischenstopp angelegt hatte.

1946 meldet er sich wieder bei Klara, aus der Colonia Nansen, die er bald darauf nach Puerto Rosario, ebenfalls in Paraguay verließ, da dort die Arbeitsmöglichkeiten besser waren.

Klara hatte unterdessen Ende 1945 Wiedergutmachungs-Rente beantragt und bekommt, nachdem man Louis als politischen Flüchtling anerkannt hatte, dann 1948 schließlich 150 Mark genehmigt. Diese Zahlung wird dann sogleich wieder auf die Hälfte gekürzt und im August eingestellt: ihr Mann solle sie finanzieren. Klara legt ihren Briefwechsel mit ihrem Mann vor und die 75 jetzt DM werden wieder gezahlt, da Louis weder Geld schicken noch die Überfahrt bezahlen könne. Louis schreibt in einem der Briefe: „Wenn man sagt, Ihr Mann lebt und muß für Sie aufkommen, so muß man ihm auch die Möglichkeit dazu geben. Warum läßt man uns nicht nach Hause? In dem man uns die Überfahrt bezahlt?“

Als man Klara die Rente im Januar 1950 erneut streicht, diesmal mit der Begründung, dass Schleenbecker nicht die Absicht habe zurückzukommen, diese Logik habe ich bis heute noch nicht verstanden, legt sie Widerspruch dagegen ein. Noch ehe dieses Verfahren abgeschlossen ist, lebt Louis wahrscheinlich bereits nicht mehr.

Die letzte Nachricht über Louis kommt von einer Nachbarin aus der Colonia Nansen, mit der Klara ebenfalls im Briefwechsel stand, die schreibt, dass Louis am 12.1.1951 auf dem Rio Paraguayo vom Schiff gefallen und seitdem vermisst sei. In einem Aktenvermerk, den Klara Schleenbecker mit Sicherheit nie zu sehen bekam, der sich aber in der Wiedergutmachungsakte im Staatsarchiv in Wiebaden befindet, spricht sich Bürgermeister Mandler nunmehr gegen eine Rückkehr von Schleenbecker aus, dieser Vermerk gipfelt in der Feststellung: „Sollte er allerdings die Überfahrt aus eigenen Mitteln bestreiten, so könnte ihm die Heimkehr nicht verweigert werden.“

Als Klara 1958 schließlich Witwenrente beantragt, hält man sie weiter hin, erst fehlt der Erbschein, dann stellt man fest, dass man erst einen Totenschein braucht, dann macht man sie noch zur Pflegerin für einen Toten, sie erlebt das alles bereits nicht mehr, sie verstarb am 25. November 1958. Nahezu fünf Jahre später teilt man der Toten mit, dass ihr gesamter Entschädigungsanspruch aufgerundet 150 DM betrage, der mit der früheren Rente bereits mehr als abgegolten sei und im übrigen mangele es an einem Erbschein.

!966 werden nochmals von den Erben Unterlagen vorgelegt und Louis wird am 30. März 1967 zum 31.12.1956 rückwirkend für tot erklärt. Nachdem nunmehr ein Erbschein vorgelegt wird, wird der letzte Antrag von 1967 wegen verspäteten Eingangs abgelehnt und die Akte Schleenbecker am 25.1.1968 geschlossen.

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Familie Bechthold

Als Johann Georg Bechthold 1907 im Alter von 52 Jahren stirbt, bleibt seine Witwe Margarethe, geborene Rollshausen mit 8 Kindern im Alter zwischen 5 und 22 Jahren zurück, zwei weitere Kinder waren bereits in ihrem ersten Lebensjahr gestorben. Als sie 1916 stirbt, ist der jüngste Sohn, Wilhelm 13 Jahre alt, Margarethe ist 17, Hermann 18 und Wilhelmine ist 22 Jahre alt; die anderen noch lebenden Kinder waren erwachsen.

Insgesamt sterben 5 Geschwister in psychiatrischen Anstalten, für drei haben wir Stolpersteine verlegt. Das Schicksal all dieser Menschen war bereits völlig in Vergessenheit geraten, es gab lediglich noch schwache Spuren, dass ein Wilhelm Bechthold aus Launsbach in der Nazizeit abgeholt wurde. Alle weiteren Spuren mussten aus den unterschiedlichsten Quellen und Archiven zusammengetragen werden.

Die erste Spur zu Wilhelm Bechthold fand sich im Staatsarchiv Wiesbaden in den Akten zu Zwangssterlisierten. Wilhelm war 1936 auf Betreiben des Launsbacher Bürgermeisters zwangssterilisiert worden, wie so viele Menschen in dieser Zeit; für die Wettenberg Gemeinden sind mehr als 10 Fälle aktenkundig verbürgt und dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Nach diesem Eingriff kommt Wilhelm wieder nach Launsbach zurück und es wird sogar die Pflegschaft wieder aufgehoben.

Einmal aktenkundig geworden, ereilt ihn sein Schicksal 1940 erneut und er wird im August 1940 in den Kalmenhof nach Idstein eingewiesen. Hier entgeht er zwar der Deportation zur Vergasung nach Hadamar, überlebt aber das Ende der Aktion T4 nur um wenige Monate und wird in der Phase der sogenannten „wilden Euthanasie“ im Kalmenhof am 15. Januar 1942 umgebracht. Man gab den Patienten Überdosen Luminal, ein Schlafmittel, spritzte ihnen Morphium, oder ließ sie verhungern. Für Wilhelm wurde als Todesursache „angeborener Schwachsinn erheblichen Grades und Marasmus“, was auf verhungern hindeutet, beurkundet. Wilhelm wurde nur 39 Jahre alt.

Bei den Recherchen zu Wilhelm Bechthold wurden wir auf seine beiden Schwestern Margarethe und Wilhelmine aufmerksam und suchten nach Spuren über ihr Leben. Über die beiden Schwestern sind neben den Unterlagen der Fürsorge, des sogenannten Ortsarmenverbandes die Krankenakten erhalten, sodass etwas mehr über sie herausgefunden werden konnte.

Margarethe wurde 1898, vier Jahre vor Wilhelm geboren und besuchte 8 Jahre die Schule in Launsbach, wo sie auch lesen lernt. Sie wird 1922 in die „Blödenpflegeanstalt Eben-Ezer zu Asbacher Hütte“ aufgenommen. Sie hat eine Körperbehinderung (Skoliose), ihre Aufnahmediagnose lautet: „hat keine Überlegung bei der Arbeit; zittert bei der Arbeit; kann Schwester nicht helfen“. 1926 wird sie in das Waisenhaus Zoar nach Rechtenbach verlegt, wo sie in der Küche hilft. Als sie schwächer und hilfloser wird, wird sie 1937 nach Herborn in die Landesheilanstalt verlegt.

Diese Verlegungen in die Landesheilanstalten waren durchaus gewollt, zur Kosteneinsparung, aber auch schon Vorboten der nachfolgenden Vernichtungsprogramme, Ernst Klee nennt das den Probelauf der Euthanasie. Mit Beginn des 2. Weltkrieges werden die Pflegerationen drastisch gekürzt, der Anfang vom Ende für Wilhelmine, die vorher nur noch 42,5 kg wog.

Hunger war der tägliche Begleiter der Patienten, nach veröffentlichten Aussagen, versuchten Patienten in Herborn ihren Hunger am Schweinetrog zu stillen und bei den Herborner Pflegern, die alle aus den Reihen der überzeugtesten Nazis rekrutiert wurden galt die Devise: „wer nicht mehr selbst essen könne, müsse verrecken, ein Füttern gäbe es im dritten Reich nicht“. Margarethe stirbt am 19. Februar 1940, noch bevor die Gasmorde Hessen erreichen und gehört damit zu dem Personenkreis, der bis heute noch nicht als Opfer der sogenannten Euthanasie anerkannt ist. Margarethe wurde nur 41 Jahre alt.

Wilhelmine, die älteste der Opfer der Familie Bechthold des Vernichtungsprogrammes in den Psychiatrien des dritten Reiches, kommt 1932 im Alter von 38 Jahren in das Waisenhaus Zoar in Rechtenbach. Als Anamnese wird Geisteskrankheit und Epilepsie in der Familie vermerkt. In dieser Akte wird auch ein Kind von Wilhelmine erwähnt, das 1924 geboren sein soll und lebe und gesund sei (Bisher konnten keine weiteren Informationen hierzu ermittelt werden). Die Diagnose über Wilhelmine lautet: „mangelhafte Urteilsfähigkeit, geistiger Tiefstand“. Wilhelmine ist nach den Unterlagen die lebenstauglichste der drei Bechthold Opfer und hat als Hausangestellte gearbeitet. Zentral für die Einweisung sind „geschlechtliche Reizbarkeit und vagabundieren“. Auch sie wird im Heim zu Arbeiten herangezogen.

Am 9. September 1937 wird sie dann gemeinsam mit ihrer Schwester nach Herborn deportiert. Sie arbeitet in der Kochküche, zeitweise wegen ihrer guten körperlichen Verfassung auch auf dem Feld, was wohl alles dazu beiträgt, dass sie die Hungerkuren besser übersteht als ihre Schwester und bis zur Umwandlung der Anstalt in ein Lazarett überlebt. Sie wird dann im Juli 1941 nach Idstein verlegt, wo ihr Bruder Wilhelm ist.

Eintragungen über die Zeit in Idstein finden sich in der Krankenakte keine mehr. Sie überlebt wohl das Ende des Krieges, was aber zunächst wenig für sie ändert. Im Unterschied zu den Gefängnissen und KZs bleiben die Insassen weiter in den Anstalten und oft sogar das Personal dasselbe und die Verpflegungssätze unverändert. In den ersten Monaten sind demzufolge die Todesraten in den meisten Anstalten weiterhin ungewöhnlich hoch.

Wilhelmine stirbt im Januar 1947 im Hungerwinter 46/47, in dem es sowohl an Lebensmitteln als auch an Heizmaterial mangelte an den Folgen ihres langjährigen Martyriums. Wilhelmine wurde nur 53 Jahre alt.

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Mathilde Schwalb

Mathilde Schwalb kommt am 12. Juli 1902 als Tochter des Werkführers Ludwig Schwalb und dessen Ehefrau Katharine Schwalb, geborene Hof in Wißmar zur Welt. Da die Eltern evangelisch sind, lassen sie Mathilde ebenfalls evangelisch taufen. Wie aus den Fürsorgeakten der Gemeinde hervorgeht, kommt sie bereits mit 5 Jahren, am 28. Dezember 1907 in die Diakonie-Anstalten in Bad- Kreuznach und wird ihr gesamtes Leben bis zu ihrer Ermordung in Heimen und psychiatrischen Anstalten verbringen. Gründe für diese Unterbringung sind nicht bekannt, da keinerlei Krankenakten in den Archiven des LWV und der Kreuznacher Diakonie auffindbar sind; entweder sind diese verschollen, verloren gegangen, oder vernichtet worden. Bei ihrer Verlegung nach Weilmünster wird sie Jahre später in einem Schreiben als idiotisch bezeichnet, ein Begriff mit dem man zu dieser Zeit in dieser Art von Unterlagen sehr schnell bei der Hand ist.

Die Gemeinde rechnet als Träger der öffentlichen Fürsorge 1,60 Reichsmark pro Tag mit der Anstalt ab, wovon sie sich 15 Reichsmark monatlich von der in ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie zurückholt und diesen Betrag an die Kreiskasse weiterleitet. Eine medizinische Betreuung findet in diesen Einrichtungen nach den Abrechnungsunterlagen nicht statt. Im Kreis Wetzlar werden die Gemeinden an den Kosten mit 30% beteiligt, den Rest übernimmt die Kreiskasse für den Bezirksfürsorgeverband.

Nach dem Tod des Vaters, der am 21. November 1936 verstarb, wird zunächst geprüft, ob Mathilde etwas geerbt hat, oder eine Rente bezieht, beziehungsweise, ob in der Rente der Mutter ein Zuschlag für den Unterhalt der Tochter einberechnet ist. Nach einem handschriftlichen Vermerk werden auch die Vermögens und Familienverhältnisse der zu dieser Zeit noch lebenden 6 Geschwister untersucht. Im Resultat braucht die Mutter von ihren 40 Reichsmark monatlicher Rente keinen Kostenanteil mehr abführen. Am 6. September 1937 wird Mathilde von Bad-Kreuznach in die Landesheilanstalt Weilmünster verlegt.

Zu dieser Zeit werden planmäßig die Insassen aus den privaten Heimen in die staatlichen verlegt. Diese Verlegungen schwächten die freien, überwiegend kirchlichen Einrichtungen, senkten die Ausgaben und vergrößerten die Bedeutung des Bezirkswohlfahrtsverbandes und schufen die Voraussetzungen für die kommenden Vernichtungsprogramme.

Anfang 1935 waren in Weilburg 375 Patientinnen und Patienten untergebracht, Ende 1936 wurde die Zahl 1000 überschritten und 1938 waren im Schnitt 1500 Insassen untergebracht, bei unverändertem Personal. Im Jahr 1939 waren zeitweise über 2000 Kranke dort untergebracht und das bei lediglich zwei oder drei Ärzten, außer dem Leiter, bei einer Zahl von 1200 als „Fassungsvermögen der Anstalt.“ Hatte die Todesrate 1936 noch 8% betragen, verdoppelte sie sich fast im Folgejahr und stieg bis auf 37,5% im Jahr 1940, bevor die Gasmorde im T4 Programm überhaupt begannen. 1938 stellte eine staatliche Besuchskommision bei einer Begutachtung fest, dass zahlreiche in Weilmünster aufgetretene Todesfälle infolge einer zumeist zu spät entdeckten Tuberkulose auf ärztliche Überlastung zurückzuführen seien.

Unmittelbar nach der Einrichtung Hadamars als sechste und letzte Tötungsanstalt begannen im Januar 1941 die Transporte in die Vernichtung von Weilmünster nach Hadamar. Zuerst wurden bis „Mitte März mehr als 750 - und damit die Hälfte - ihrer eigenen Patientinnen und Patienten in die Hadamarer Gaskammer“ geschickt. „Am zweiten Tag, an dem eine Verlegung von Weilmünster nach Hadamar stattfand, gelang es einem bereits seit 1936 in Weilmünster untergebrachten 65jährigen Patienten“ zu fliehen, was darauf hindeutet, dass die Opfer sehr wohl wussten, was ihnen da bevorstand.

Am 20. Februar 1941 wird Mathilde Schwalb mit weiteren 70 Patienten von Weilmünster nach Hadamar verbracht und dort noch am selben Tag im Rahmen der sogenannten „T4 Aktion“ umgebracht.

Die ersten Jahre, bis zum Rentenbeginn des Vaters wohnte die Familie in einer Werkswohnung der Zigarrenfabrik, in der heutigen Bahnhofstraße in Wißmar, danach zog die Familie in das Haus Nr. 155 (heute Bahnhofstraße 8), in dem die Mutter zum Zeitpunkt der Verlegung von Mathilde nach Weilmünster noch mit ihrer Tochter Minna und deren Mann Wilhelm Will wohnte.

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Karl Drescher

Karl Drescher wurde am 6. Juli 1864 geboren, sein Vater war Schreiner und er lernte Zimmermann. Er heiratet 1888 Anna Margarethe Pausch mit der er 6 Kinder hat. Als seine Frau mit 44 Jahren stirbt, sind die Kinder zwischen 11 und 22 Jahre alt. Zu dieser Zeit arbeitet Karl Drescher als Hüttenarbeiter.

Die älteste Tochter blieb im Elternhaus beim Vater wohnen, die jüngeren Geschwister zogen nacheinander aus, blieben aber bis auf eine Tochter in Krofdorf wohnen. Nachdem der Mann der im Hause wohnenden Tochter im ersten Weltkrieg in Ypern gefallen war, unterstützte Karl seine im Hause wohnende Tochter. Im Alter sorgte dann diese Tochter für den Vater. In seiner 1944 beginnenden Krankenakte taucht als Berufsangabe Invalide auf, was darauf hindeutet, dass er bereits vor Eintritt des Rentenalters nicht mehr arbeitsfähig war und von seinen Kindern auch finanziell unterstützt wurde.

Im Jahr 1944 nimmt dann das Unheil seinen Lauf, am 2. Mai 1944 wird Karl Drescher in die Landesheilanstalt Weilmünster eingewiesen und da seine Krankenakte eine der wenigen ist, die aus dieser Anstalt erhalten blieben, lässt sich sein Weg in den Tod skizzieren. Wer treibende Kraft hierfür war, ist nicht feststellbar, beteiligt waren jedenfalls die Bürgermeisterei und der Sanitätsrat Seipp. Der Bürgermeister bescheinigt eine Woche vorher als Ortspolizeibehörde, dass gegen die Anstalts-Unterbringung von Karl Drescher nichts einzuwenden sei und der Arzt erstellt eine Bescheinigung, dass eine häusliche Verpflegung und Versorgung ausgeschlossen sei. Aus dem später von der Gemeinde ausgefüllten Fragebogen geht hervor, dass seine zwei Söhne für den Aufenthalt aufkommen. Als Grund für die "Geistesstörung" werden Altersschwäche und schlechte Pflege angegeben; Auffälligkeiten in der Familie oder in der Lebensweise Dreschers gehen aus den Unterlagen keine hervor.

In der Krankenakte wird "senile Demenz." als offizielle Einweisungsdiagnose vermerkt. Vom 10. Mai, also noch in der ersten Woche ist ein Patientengespräch dokumentiert, aus dem hervorgeht, dass Drescher Probleme mit einem Bein und dem Laufen hat und dass er schwerhörig ist. Die aufgeschriebenen Fragen und Antworten lassen keineswegs auf Verwirrtheit des fast 80jährigen schließen. Auf die Frage "Wer hat Sie denn hierher gebracht?" antwortet er: "Ei, hierher, die älteste Tochter" und weiter auf "Warum?" "Das muss der Bürgermeister gemacht hawe, der hat se hierher geschickt, das wiß ich aach net,... das ich geheilt wern soll." Danach gibt es bis zur Verlegung nach Hadamar im Oktober 1944 lediglich noch zwei Einträge über Bettlägerigkeit und abnehmende Konstitution.

In Hadamar gibt es einen Aufnahmeeintrag vom 20.10.1944, vier Tage später wird sein Tod eingetragen, als Todesursache Marasmus senilis, was auf Verhungern hindeutet. Zur Situation in den Anstalten ist noch anzumerken, dass Herborn in 1944 bereits geschlossen und zum Lazarett umgewandelt war und in Weilmünster bereits im März 1944 zwei Gebäude für Auslagerungen aus zerbombten Frankfurter Krankenhäuser und ab dem 20. September 1944 sieben der zehn Gebäude und die Männerbaracke zur Einrichtung eines SS Lazarettes bereit gestellt wurden.

Platz wurde dabei nicht zuletzt durch die Forcierung der Krankenmorde an den Patienten der Landesheilanstalt geschaffen. Im Jahre 1944 sind für Weilmünster 736 Todesfälle bei einer durchschnittlichen Belegung von 1650 Menschen verzeichnet. Ermordet wurden diese Menschen nach Einstellung der sogenannten "T4" Aktion nicht mehr durch Vergasen, sondern man ließ sie verhungern oder brachte sie mit Medikamenten um.

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Wilfried Bender

Paul Wilfried Bender kam am 27. August 1934 in Krofdorf als Sohn des Schneiders Wilhelm Paul Bender und seiner Ehefrau Helene, geborene Müller zur Welt. Die Eltern waren nicht kirchlich gesinnt, also freireligiös und so wurde auch Wilfried nicht getauft. Mit drei Jahren erkrankte er im Oktober 1937 an einer Hirnhautentzündung und kam zur Behandlung in die Kinderklinik der Universität Gießen. Als er im Januar des Folgejahres entlassen wurde, waren noch Folgeschäden zurück geblieben, was bei dieser Art Erkrankung häufiger vorkommt. Er konnte nicht mehr laufen und auch nicht mehr selbständig essen, neben den körperlichen Einschränkungen blieb auch eine geistige Behinderung zurück.

Die Eltern behielten das Kind gegen den Rat der Ärzte zuhause und pflegten es aufopferungsvoll. Es gelang ihnen, dass er wieder laufen lernte und die Sondenernährung konnte auch wieder abgesetzt werden, es genügte ihm beim essen zu helfen. Die Eltern hatten, wie soviele in Krofdorf eine kleine Landwirtschaft nebenbei und sie nahmen den Jungen übrall hin mit auf das Feld. Eines Tages geschah es, dass Wilfried sich bei der Feldarbeit von den Eltern entfernte und sich Richtung Wißmar verlief. Die Sache ging gut aus, er wurde in der Nähe von Wißmar aufgegriffen und nach Telefonaten mit der Bürgermeisterei in Krofdorf, in denen es gelang die Adresse der Eltern zu eruieren, wohlbehalten daheim abgeliefert.

Mitte des Jahres 1942 bekamen die Eltern eine schriftliche Aufforderung Wilfried in der Anstalt Scheuern bei Nassau abzuliefern. Das Zugangsbuch in Scheuern verzeichnet den 15. Juli 1942 als Aufnahmedatum, als Diagnose ist "Idiotie und halbseitige Lähmung" eingetragen. Mit dieser Einweisung nach Scheuern war das Todesurteil über Wilfried bereits gesprochen und wartete nur auf die Vollstreckung. Für den 9. Februar 1943 weist das Zugangsbuch in Scheuern auf, dass der Patient als geheilt nach der Anstalt Kalmenhof entlassen wurde

Von Entlassung konnte aber keine Rede sein, im Kalmenhof befand sich seit Ende 1941 eine sogenannte 'Kinderfachabteilung', also eine Vernichtungsstation des Reichsausschusses, von denen es mindestens 37 im damaligen 'Großdeutschen' Reich gab, in denen planmäßig vorwiegend behinderte Kinder und Jugendliche ermordet wurden. In den Räumen des Kalmenhofs war zu dieser Zeit bereits ein Lazarett eingerichtet, für das der größte Teil der Räumlichkeiten beschlagnahmt waren. Dem Kalmenhof selber stand nur noch der zweite Stock zur Verfügung und für die Kinderabteilung wurden im dritten Stock zwei Zimmer ausgebaut. Die Station war oft so stark überbelegt, dass mehrere Kinder sich ein Bett teilen mussten. Kamen größere Transporte an, wurde ein Teil der Kinder vorübergehend im ausgegliederten "Altersheim" untergebracht und dann sukzessive ins Krankenhaus gebracht, wo sie nach kurzer Zeit "starben", genauer ausgedrückt: umgebracht wurden. Der Mord erfolgte dann durch Nahrungsmittelentzug, durch Überdosen von Luminal, einem Schlafmittel, oder durch Morphiumspritzen.

Die Todesbeurkundung selber diente dann, wie die davor stattfindende Verlegung, nur noch zur Verwischung der Spuren und der Desorientierung der Angehörigen. Bei Wilfried erfolgte diese dann vier Tage nach der Verlegung zum 12. Februar 1943, als Todesursache wurde angegeben: Idiotie, Halbseitenlähmung (Encephalitis), chron. Ekzem, Anfälle, Marasmus. Den Eltern gelang es dann wenigstens noch den Leichnam ihres Kindes nach Hause zu holen und in Krofdorf zu bestatten.

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